Es tut weh, wenn jemand den Finger in eine unserer alten Wunden legt. Es macht uns wütend. Wir wollen nicht daran erinnert werden, denn wir mussten den Schmerz und die Entwertung als Kinder zu lange ertragen. Wir haben damals gelernt, unsere Gefühle zu unterdrücken, um zu überleben, um irgendwie angenommen zu werden und zurechtzukommen. Wir haben erfahren, dass wir so, wie wir natürlicherweise sind, nicht geliebt werden. Da wir unsere Eltern als Kinder nicht infrage stellen konnten, haben wir gelernt, den Fehler bei uns zu suchen und uns dafür zu schämen und schuldig zu fühlen.
Jetzt wollen wir verständlicherweise nur unsere guten Anteile sehen, jene für die wir als Kinder geliebt wurden. Jene, für die uns die Liebe entzogen wurde, versuchen wir bis jetzt zu verstecken, weil wir immer noch Angst haben, dass man uns Liebe entzieht, wenn man uns auf die Schliche kommt. Und so sehen wir unbewusst in jeder Begegnung, die etwas tiefer greift, eine Gefahr.
Zu erkennen, dass unsere Verletzungen keine Fehler sind, für welche wir uns schuldig fühlen oder schämen müssen, sondern eben Wunden, die noch nicht versorgt wurden, ist der Weg heraus aus dem Teufelskreis von Schmerz und sich immer wiederholenden Mustern in unseren Leben. Denn wir inszenieren unbewusst immer wieder ähnliche Situationen, um diese Traumata zu lösen. Das geht jedoch nur, wenn wir hinsehen und anerkennen, dass da überhaupt eine Wunde ist. Und es ist notwendig, dass wir uns unsere Gefühle der Schuld und der Scham eingestehen, die damit verbunden sind.
Das erfordert Mut und der fehlt uns oft, weil der Glaubenssatz, dass wir ausgestossen und nicht mehr geliebt werden, ja sogar, dass wir sterben müssen, wenn wir diese Gefühle und unsere Bedürfnisse nicht unterdrücken, ist so in uns einzementiert, dass wir lieber weiterhin so tun, als wäre alles in Ordnung. Lieber wiederholen wir immer dieselben destruktiven Muster in verschiedenen Facetten und glauben, das wäre der normale Lauf des Lebens und die normale Art und Weise miteinander umzugehen.
Wir halten die Leine, an welcher wir unseren Auslauf beschränken, für Freiheit und Bewusstheit, weil wir gelernt haben, in ihrem Radius gut zurecht zu kommen.
Wir sind nicht schuld daran, dass wir als Kinder verletzt wurden. Es gibt nichts, wofür wir uns schämen müssen. Wir sind wundervolle, vollkommene und unbeschreiblich liebenswerte Wesen.
Deshalb wünsche ich mir, dass wir alle den Mut aufbringen, uns endlich um unsere Wunden zu kümmern, sie anzusehen und sie so zu behandeln, als wären es körperliche Wunden. Niemand würde einen tiefen Schnitt in seinem Bein ignorieren und sein Leben einfach weiterleben, als wäre da nichts. Er würde hinsehen, die Wunde reinigen, vielleicht nähen lassen und einen Verband darum legen, damit sie heilen könnte. Unsere seelischen Wunden hingegen, ignorieren wir hartnäckig und wundern uns dann, dass sie sich entzünden, sprich wir wütend werden, wenn jemand den Finger hineinlegt.
Würdest du einem deiner Liebsten verwehren, seine Wunde zu versorgen, wenn er sich verletzt hat?
Bist du dir selbst nicht das Gleiche wert?
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