· 

Ist Vergebung möglich?

Natürlich kann ich mich dazu entscheiden, jemandem zu vergeben, aber kommt es dann wirklich aus der Tiefe meines Herzens oder ist es eher wie ein Tuch, welches ich über den Teig der Wut und all der schlechten Gefühle lege, die noch in mir brodeln? 

Vergebung ist ein grosses Wort. Eine Hürde, die ich angeblich nehmen muss, um ein guter, spirituell erwachter und erleuchteter Mensch zu sein.

Genauso ist es mit dem Loslassen. Die beiden gehen Hand in Hand. 

Beides geht nicht per Willensakt. Das ist zumindest mein Erleben. 

Diese Konzepte vom Loslassen und Vergeben suggerieren mir, dass ich so, wie ich fühle, nicht in Ordnung bin und damit halten sie mich in der „ich bin klein, schuldig und unwürdig“-Schlaufe gefangen. Daraus befreien kann ich mich, indem ich zu mir stehe, mich aufrichte und wieder lerne, meinem eigenen Herzen zu vertrauen und indem ich meine Authentizität über die Scheinheiligkeit stelle. 

Vergeben und Loslassen sind Prozesse die ich durchlaufe, durchleide und durchliebe. Sie brauchen ihre Zeit. Manchmal reicht dafür vielleicht ein Leben  nicht aus. Auf jeden Fall ist es hilfreich, mich den Gefühlen zuzuwenden, welche hinter dem Ereignis liegen, das ich loslassen oder vergeben will oder glaube zu sollen. Sie zu fühlen und zu würdigen, anstatt mich dafür zu schämen und zu verurteilen. Gleichzeitig aber auch nichts schönzureden und zu verdrängen.

Beim Vergeben und beim Loslassen geht es nicht darum, etwas, das mich belastet, weghaben zu wollen. Es geht darum, es anzunehmen, in mein Herz hineinzuholen und ihm dadurch die Schwere zu nehmen. Es geht nicht darum, denjenigen lieben zu lernen, der mir etwas Schlimmes getan hat, sondern darum, mich selbst zu lieben mit all meinen negativen Gefühlen. 

Wenn ich diesen Weg gehe, gibt es nichts loszulassen oder zu vergeben. Es lässt dann mich los, weil ich die Verstrickung löse und immer mehr in meiner eigenen Geschichte lebe anstatt in jener des anderen. Es gibt nichts zu vergeben (= verschenken) ausser Liebe an mich selbst. Der erste und wichtigste Akt dieser Liebe ist, mir die Erlaubnis zu geben, da zu stehen, wo ich gerade stehe. Von dort aus kann meine Wunde allmählich heilen und dann kann meine Liebe womöglich auch zum anderen weiterfliessen.

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0